Uta Reutlinger
«Wir empfehlen, psychische Gewalt bei der Kantonspolizei Thurgau zur Anzeige zu bringen.»
Selina Fässler
Mit ihren «Rund um» Kartensets geht die Grafikerin Selina Fässler «Tabu-Themen» auf den Grund. Dabei illustriert sie Fragen-Antwortkarten rund um das Sterben. Sie erzählt, warum sie sich als junger Mensch gerne mit den heiklen Themen beschäftigt.
Kreuzlingen Die Trends & Identity-Studierenden der Zürcher Hochschule der Künste wurden im Herbst 2019 vor eine anspruchsvolle Aufgabe gestellt. «Ein Unterrichtsmodul fand in Zusammenarbeit mit einem Aargauer Hospiz statt. Wir bekamen den Auftrag, ein Projekt zum Thema Sterben, Tod und Trauer umzusetzen», erzählt die 30-jährige Kreuzlingerin Selina Fässler. Die Art des Endprodukts stand uns frei – egal ob fotografisch, ein Objekt oder als Interaktion im öffentlichen Raum. «Ich war Mitte zwanzig, hatte mich noch nie aktiv mit dem Thema auseinandergesetzt und mir wurde bewusst, wie wenig ich darüber weiss und dass dieses Thema viele überfordert.» Sie stellte sich der Herausforderung, suchte das Gespräch mit Ärzten, sterbenskranken Menschen, Trauerbegleitern sowie Angehörigen. «Welches sind die häufig gestellten Fragen?», wollte ich wissen. Darf man seinen zu Hause verstorbenen Ehepartner noch berühren oder muss der Arzt mitten in der Nacht kommen, wenn ein Mensch verstirbt? Selina Fässler begann, die Fragen und Antworten zu sammeln und zu illustrieren. Entstanden ist ein Prototyp für ein Kartenset, welches ihr förmlich «aus den Händen gerissen wurde». Vor allem die Beantwortung der Fragen war aufwendig für die damalige Studentin. «Es war ein mega Lupf, mich als fachfremde Person in medizinische, rechtliche und soziale Themengebiete einzulesen.» Doch Selina Fässler tauchte immer tiefer in die Welt des Sterbens ein und merkte schnell, dass der Bedarf an ihren Karten-Sets auch bei anderen Themen wie Sterbeethik und Patientenverfügung da war. So erschienen seit 2021 drei Sets, welche von Fachpersonen wie auch von Betroffenen und Angehörigen zu Rate gezogen werden. Wichtig ist Selina Fässler dabei, dass auch eine Prise Humor die heiklen Themen begleiten darf. «Sich im Sterbeprozess gemeinsam mit den Betroffenen an schöne oder lustige Momente im Leben zurückzuerinnern, hilft zum Beispiel sehr.»
Kathy Haas wurde auf Selina Fässlers Arbeit aufmerksam und schrieb sie über LinkedIn an. «Sie studierte Soziale Arbeit und sass an ihrer Masterthesis zum Thema assistierter Suizid», so die Grafikerin. Es sei schwierig, sich neutral über assistiertes Sterben zu informieren, wenn man sich nicht direkt an eine Sterbehilfeorganisation wenden möchte. «So haben wir gemeinsam Fragen definiert, sie aus fachlicher, ich aus der laienhaften Perspektive.» Entstanden ist so das vierte Set mit 30 Frage-Antwort-Karten.
Ob sie die Auseinandersetzung mit dem Sterben nicht traurig gemacht hat, fragen wir. «Das hat meine Mutter mich auch gefragt. Sie hatte Bedenken, dass sich der tägliche Umgang mit dem Tod auf meine Psyche auswirken könnte», so Selina Fässler. Doch es habe auch schöne Seiten, sich als junger Mensch mit dem Tod zu beschäftigen. «Ich gehe seither viel dankbarer und bewusster durchs Leben. Dazu erfahre ich viel Dankbarkeit von den Leuten, welche die Sets nutzen.» Sie überlegt einen Moment und fährt dann fort: «Man könnte den Tod mit der Geburt vergleichen. Man bereitet sich darauf vor, besucht einen Geburtsvorbereitungskurs, lernt, dass sich dabei der Darm entleeren kann und andere nicht so schöne Details. Aber das erworbene Wissen nimmt etwas die Angst, wenn der Fall tatsächlich eintrifft. Warum sollte man sich also nicht auf den Tod vorbereiten?». Selina Fässler arbeitet bereits an einem neuen Set, einem zum Thema Alter. Sie ist überzeugt, dass es immer noch viele tabuisierte Themen gibt, die ihren Schrecken verlieren, wenn man sich traut, über sie zu sprechen.
Von Desirée Müller
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